Montag, 9. April 2007

Nur ein Baum. Mein Baum.


Ich habe noch nicht alle Bäume dieser Welt kennengelernt. Aber er war mein Lieblingsbaum. Er war mein Freund.

Er stand westlich vom hässlichen Block, in dem ich wohne. Als ich vor 4 Jahren etwas wehmütig hier einzog und auf den kleinen Balkon trat, sahen wir uns das erste Mal. Er grüsste mich. Ich grüsste ihn. Wir mochten uns sogleich, ich und der Baum.
Bäume sind mehr als nur Pflanzen. Eine Blume ist schön oder nicht so schön. Ein Baum jedoch ist sympathisch oder nicht so sympathisch. Er hat Persönlichkeit, Charakter. Seele vielleicht. Ich schaue einen Baum an und ich mag ihn oder mag ihn nicht. Manchmal mag ich ihn erst beim zweiten Blick. Manchmal auch beim dritten nicht. Wie bei den Menschen.
Mein Baum war gross und stattlich. Aber nicht so riesig, dass er überheblich oder gar aufdringlich gewirkt hätte wie andere seiner Artgenossen. Er war bescheiden und versuchte meistens nicht aufzufallen. Nur manchmal im Frühling trug er sein frisch gesprossenes Laub mit narzistischem Stolz. Er war schön. Auf seine Weise. Nicht perfekt, aber schön. Er war nicht ganz so symmetrisch und proportional wie die mustergültigen Bäume der Gemälden aus der Romantik-Epoche. Aber er wollte sowieso kein Bilderbuchbaum sein. Sein dicker Stamm hatte sich in den Jahren immer etwas mehr gegen Nordost geneigt, wirkte aber gleichwohl aufrecht und unbeugsam und hielt dem Wind mühelos stand. Er war nicht einer dieser labilen, bruchgefährdeten Bäume, die sich lebensüberdrüssig von einem Windstoss niederreissen lassen. Er erfreute sich bester Gesundheit und immenser Daseinsfreude. Am meisten freute er sich stets auf jenen besonderen Tag im Frühling, an dem die ersten seiner Knospen aufspringen und das Leben, dass er den Winter hindurch in seinem Innern wie ein Schatz verborgen hat, wieder nach aussen dringt. Er hatte 5 Hauptäste. Einer davon war etwas kürzer und dicker als die anderen. Im Winter, kahl und entblösst, sah er aus wie eine knöchrige Hand, die aus der Erde emporragt und nach dem Himmel greift. Er war ein träumerischer, feinfühliger Baum, so fein verästelt wie ein menschlicher Nerv. Er war manchmal von einer etwas melancholischen Aura umgeben. Jedoch strahlte er nie diese melodramatische Schwermut und den betrübten Weltschmerz aus, wie es andere Bäume zu tun pflegen. Er war alt. Aber nicht alt für einen Baum. Er war ein aufmerksamer Beobachter. Er hatte immer am selben Platz gestanden und still zugeschaut wie Jahr für Jahr Neues entstand und Altes verging. Und er speicherte die Erinnerungen in den Adern seines Holzes.
Wie gesagt, wir mochten uns und verbrachten viel Zeit zusammen. Manchmal sass ich in seinem Schatten und ich las ihm ein Buch vor. Er mochte Geschichten. Manchmal erzählte er mir eine Geschichte. Manchmal ich ihm. Manchmal hat er mich getröstet. Er konnte gut trösten. Manchmal, wenn ich nachts nicht schlafen konnte, setzte ich mich auf den Balkon und wir schauten gemeinsam den Mond an. Er konnte auch oft nicht schlafen. Dann haben wir nach Sternschnuppen gesucht. Und wenn wir eine entdeckten, wünschten wir uns, fliegen zu können. Manchmal wünschte er sich, so hoch zu wachsen, bis er mit seinen Ästen den Himmel berühren könnte. Er habe ja Zeit, sagte ich. Dachte ich damals. Manchmal ruhten sich Vögel auf seinen Ästen aus, erzählten ihm Geschichten aus aller Welt und wir schauten zu wie sie weiterreisten bis sie als kleine Punkte mit dem Himmel verschmolzen. Manchmal liess er dann einige seiner Blätter im Wind tanzen und schickte sie den Vögeln nach.
Wir haben uns viel erzählt. Manchmal habe ich ihm zugehört. Aber meistens hörte er mir zu. Er konnte gut zuhören. Er wusste, dass ein guter Zuhörer nichts zu sagen braucht. Oft haben wir uns auch einfach angeschwiegen. Nicht weil wir nichts zu sagen wussten, sondern weil wir nichts zu sagen brauchten. Mit Bäumen schweigt es sich leichter als mit Menschen.

Als ich heute Mittag vor der Arbeit meinem Freund guten Tag wünschen und eine Weile mit ihm Schweigen wollte, war er nicht mehr da. Mein erster Gedanke war, dass er davongeflogen ist. Beim zweiten Blick entdeckte ich seine sterblichen Überreste. Eine hölzerne Leiche. Zersägt. Zerstückelt. Zerteilt. Zerhackt. Zerschlagen. Zerstreut. Zerkleinert Zersplittert. Zertrümmert.
Wie amputierte Gliedmasse lagen seine Zweige da. Die Knospen waren prall. Vielleicht wären sie heute aufgesprungen.
Ich schwieg. Er schwieg nicht zurück.

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