Literaturtage in Solothurn.
Ich stehe auf dem Kronenplatz am Rande einer kleinen Menschenansammlung und verfolge mit halbem Ohr eine anlässlich der Literaturtage gehaltene öffentliche Lesung eines mir unbekannten Schriftstellers. Plötzlich gewahre ich aus den Augenwinkeln eine Gestalt näherkommen, kurz innehalten - ein hochgewachsener Mann mittleren Alters mit braungebranntem Gesicht, umrahmt von graumeliertem, unordentlichem Haar; um den Hals trägt er eine unauffällige Spiegelreflexkamera – dann seinen Weg fortsetzen, die Gasse hoch in Richtung der Kirche. Ich erkenne ihn sofort. Kurzerhand beschliesse ich, ihm zu folgen. Ich stelle mir vor, diese Szene könnte irgendwo anders stattfinden, in einer schmalen dunklen Gasse in einem Stadtviertel Bagdads, auf einer staubigen Strasse im kargen Ödland Afghanistans, und sein Schritt wäre dort wie hier, weich federnd und von ruhiger Gelassenheit und gleichzeitig kraftvoller Ausdruck angespannter Geistes- und Sinnesgegenwart.
Auf Höhe der St. Ursen-Kirche biegt er links ab und betritt ein Hotel; ich folge ihm ins luxuriöse Innere des Gebäudes in der vagen Hoffnung, er finde sich dort zu einer kurzen Kaffeepause ein und böte mir die Gelegenheit, ihn anzusprechen. Doch meine Detektiv-Maus-Verfolgungsjagd findet ein jähes Ende, als er den hinteren Teil des Hotels ansteuert und in den Tiefen der Gänge des Gästezimmertraktes verschwindet.
Kurze Zeit später: Konzentriert sitze ich im Saal des Landhauses, wo eben jener Mann - Daniel Schwartz, bis dahin vornehmlich für seine Tätigkeit als Fotograf bekannt - in seinem neuesten Selbstentwurf als Autor sein Erstlingswerk „Schnee in Samarkand“ einem zahlreich erschienenen Publikum vorstellt.
Das Buch umfasst stolze tausend Seiten und ist das Ergebnis jahrelanger Recherchen über Geschichte, Geographie und Gegenwart Eurasiens, vom kaspischen Meer bis zur westchinesischen Provinz Xinjiang, gemischt mit Erfahrungsberichten aus unzähligen Reisen in diese Geburtsstätte der Globalisierung, wie Schwartz sie nennt, in dieses Reich Jahrtausende alter, sich überlagernder Geschichte, deren Kenntnis als Werkzeug dienen könne zum Verständnis der heutigen Welt.
Untypisch für einen Fotografen, packt Daniel Schwartz zuallererst, noch vor seiner Fotoausrüstung, die Bücher ein, die er auf seiner bevorstehenden Reise lesen will. Von Herodot bis Kapuscinski finden sich alle möglichen Zeitzeugnisse und Exemplare historischer Reiseliteratur in seiner Bibliothek, sich selbst bezeichnet er augenzwinkernd als „übergeschnappten Leser“.
Er recherchiere, um nicht zu viele, sondern relevante Bilder zu machen; ob und wie dies Daniel Schwartz gelingt, lässt sich bis zum 14. Juni im Zürcher Helmhaus in der Fotoausstellung „Travelling through the eye of history – Ansichten aus dem Hinterland der Kriege“ beurteilen. Sehenswert!
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