Rituale sind die Stützräder einer funktionierenden Alltäglichkeit. Und Rituale sind wohl, so wage ich zu behaupten, gar die Garantie unsres Überlebens, kleine, identitätsstiftende Leitplanken und Wegweiser, die uns davor behüten, uns im Chaos des Nichts zu verlieren, aufzulösen.
Nun ja, diese einführenden Worte waren vielleicht etwas gar zu esoterisch-tiefenpsychologisch, um euch in mein relativ simples, aber mir wichtiges Samstagsritual in Brüssel einzuführen. Tant pis. Jedenfalls hat der Samstag also, wie übrigens auch in der Schweiz, eine besondere Bedeutung für mich hier in Belgien. Und er wird geprägt durch ein kleines, vielleicht typisch urbürgerliches Ritual, das diesem ersten Wochenendtag einen Rahmen gibt, den ich schätzen gelernt habe.
So steh ich also auf, vielleicht gegen zehn, elf Uhr und mach mir mein Frühstück, das meist aus den billigsten und daher nicht sonderlich schmackhaften Carrefour-Müsliflocken besteht. Hierbei hab ich mich stets äusserst ruhig zu verhalten, da mein Mitbewohner Joan, durchwegs ein Nachtgewächs, noch schläft und nicht den Anschein macht, als ob er vor 14 Uhr aufzustehen gedenke. Also bleib ich nicht allzu lange sitzen, hol Jacke und Schal und mach mich mit Nils‘ Drahtesel auf den Weg zu meinem Kiosk, der sich nördlich der Uni befindet und von einem gemütlichen, älteren Herrn mit Brille, Schnauz und Bierbauch betrieben wird. Hier gibt’s – was keine Selbstverständlichkeit ist etwas abseits des Stadtzentrums – die NZZ. Internationale Ausgabe, 2 Euro 40. Meist kauf ich mir zusätzlich noch ein Heftli oder eine Wochenzeitung (heute das „Jeune Afrique“) auf Französisch, stets mit den besten Vorsätzen, die ganzen Artikel aufmerksam zu lesen, Nicht-Verstandenes nachzuschlagen und sowieso: Gas zu geben, diese Sprache immer besser zu lernen. Meist bleibt es denn aber auch bei den guten Vorsätzen, einerseits, weil ich von der Qualität dieser Magazine mehrheitlich ziemlich enttäuscht werde, andererseits, weil ich meinem inneren Wesen nach gerade übers Wochenende nicht immer den Weg des grössten Widerstands suche und mir die französische Lektüre denn auch noch immer nicht so leicht gelingt, wie ich mir das wünschen würde.
Also mach ich mich mit der NZZ unter dem Arm auf zum Place Flagey, der im Herzen des Ixelles-Quartiers liegt und als Zentrum der alternativen Kultur Brüssels gilt. Hier gibt’s eine Menge kleiner, sympathischer Cafés, wovon ich mir eines aussuche, mich an einen grossen Tisch setze, einen Kaffee (hier ohne Milch, das scheints in Belgien so nicht zu geben) bestelle und mich, angefangen mit dem samstäglichen Hauptkommentar auf Seite 1, in die Lektüre stürze. Ich mag die NZZ, das alte Mütterchen. Am liebsten sind mir der erste Teil – „International“ – und der letzte – das „Feuilleton“ mit der samstäglichen Beilage „Literatur und Kunst“. Ich lese lange und intensiv, lasse kaum einen Artikel aus und erfreue mich der unprätentiösen Sachlichkeit der NZZ, die ich andernorts meist vermisse. Nach dem zweiten Kaffee und der abschliessenden Lektüre des Sportteils mach ich mich schliesslich auf Richtung Mittagessen. Hierfür gibt’s auf dem Flagey an sich nur eine in Erwägung zu ziehende Option: Pommes – des frites. Es seien, so haben mir alle mir bekannten Belgier hier versichert, die besten Frites der Stadt und damit die besten Frites… der Welt. Schliesslich haben die Belgier diesen berühmten Kartoffelsnack erfunden und sind ganz offensichtlich und zu Recht stolz darauf. Die Besten der Besten – auch hierüber liess ich mich gehörig belehren - gibt’s wiederum beim Frittenstand gleich nahe des Teiches, vor dem immer eine Menge Leute warten (Bild). Dieser „Demirov Brüssels“ macht, so glaube ich, ein Bombengeschäft. Ich jedenfalls steh jeweils auch geduldig an und bestell mir ein Cornet des Frites mit Ketchup für 2 Euro 50. Es schmeckt. Alle paar Wochen findet nebstdem ein Flohmarkt in der Umgebung statt, über den ich sodann gemütlich schlendere und auf dem ich immerhin schon mein Nachttischlämpchen für einen Euro erwerben konnte. Am frühen Nachmittag schliesslich gehts nach Hause, wo Joan grad aufgestanden ist. Ich sitze sodann in unsrem Zimmer, sehe nach draussen und erfreue mich des freien Nachmittags und der Möglichkeiten, die da vor mir liegen. Ich mag den Samstag, ich mag dieses Ritual und ich mag dies kleine Fenster in die Schweiz und von da zurück in die Welt.
Samstag, 15. November 2008
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